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Thuggee-Kult: Der Kult, der mit einem Lächeln tötete

  • Autorenbild: Marie Laveau
    Marie Laveau
  • 16. Feb. 2024
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. Mai

Vertrauen ist eine stille Währung auf Reisen. Man teilt Feuer, Wasser, Geschichten – und glaubt, dass ein freundliches Gesicht keine Gefahr bedeuten kann.


Doch was, wenn gerade dieses Vertrauen die Eintrittskarte in den Tod ist? Wenn der Mann, der dir Brot reicht, bereits beschlossen hat, dass du sterben wirst – nicht aus Hass, sondern aus Pflicht? Aus spiritueller Überzeugung?


Es gibt Schrecken, die sich nicht durch Lärm oder Blut manifestieren, sondern durch ihre Kälte. Die Thuggees töteten nicht aus Zorn. Sie warteten, lächelten, beteten – und zogen dann mit ritueller Präzision die Schlinge zu.


großer Baum, einige tote Männer hängen seitlich an seilen, Rituale, Kultstätte, düster,

Wer waren die Thuggees?


Der Begriff "Thuggee" leitet sich vom Sanskrit-Wort sthagati ab – "verbergen". Schon der Name selbst spricht Bände über das Wesen dieses Kults: Heimlichkeit, Täuschung, Tarnung.


Die Thuggees waren religiös motivierte Mordbanden, die vom 13. bis ins 19. Jahrhundert vor allem im nördlichen und zentralen Indien aktiv waren. Ihre Spezialität: das lautlose Erdrosseln von Reisenden – mit einer Seidenschlinge namens rumal. Der Tod war kein Zufall, sondern ein Ritual. Und ein Opfer bedeutete nicht nur Beute, sondern ein göttliches Opfer an Kali, die hinduistische Göttin der Zerstörung und Erneuerung.


Ein Mordkult in der Maske der Höflichkeit


Die Thuggees waren keine Straßenräuber. Sie waren Teil eines geheimen, generationsübergreifenden Netzwerks, oft mit eigenen Kodizes, Hierarchien und Regeln.


Typischerweise gingen sie folgendermaßen vor:


  1. Erschleichen des Vertrauens: Thugs reisten in Zivil, oft mit Familien oder Tieren, gaben sich als Pilger, Händler oder einfache Reisende aus.


  2. Warten auf den richtigen Moment: Sie beobachteten ihre Opfer manchmal tagelang – bei Gesprächen am Lagerfeuer, beim Gebet, bei der Rast.


  3. Der Akt des Mordes: Im abgestimmten Moment – meist nach einem festgelegten Signal – warf ein Thug dem Opfer das rumal um den Hals, oft mit einem Knoten, der genau auf die Halsschlagader traf.


  4. Entsorgung & Riten: Die Leiche wurde rituell vergraben. Meist in vorbereiteten Gruben entlang abgelegener Handelsrouten. Dem Mord folgte ein Gebet an Kali.


Zahlen, Mythen und Realität


Die koloniale Verwaltung des Britischen Empires im 19. Jahrhundert war schockiert von den Berichten über diese Morde. Zwischen 1820 und 1840 sollen laut Berichten der British East India Company über 40.000 Menschen Opfer der Thuggees geworden sein – wobei viele Historiker diese Zahlen für propagandistisch überhöht halten.


Ein besonders aktiver Thug, Behram, soll an über 900 Morden beteiligt gewesen sein. Andere Quellen sprechen von 125 bestätigten Taten – immer noch eine Zahl, die in den Bereich des Serienmordes fällt.


Trotz vieler Legenden war der Kult weder durchgehend einheitlich noch flächendeckend organisiert. Vielmehr handelte es sich um lose Zellstrukturen, die lokal verankert waren – oft mit stillschweigender Duldung von lokalen Fürsten oder korrupten Beamten.


Warum töteten sie? – Die spirituelle Dimension


Der vielleicht beunruhigendste Aspekt der Thuggees war ihr religiöses Weltbild. Für sie war Mord kein Verbrechen, sondern Dienst an Kali. Die Göttin forderte Opfer, und durch das Töten der "Auserwählten" hielten die Thugs die kosmische Ordnung im Gleichgewicht.


Viele Thuggees glaubten, dass ihnen bei Ausführung des Rituals Sünden erlassen würden. Mord wurde zur sakralen Pflicht. Einige Historiker wie Kim Wagner (Thuggee: Banditry and the British in Early Nineteenth-Century India) argumentieren, dass der Thuggee-Kult weniger eine Religion als eine Form krimineller Subkultur mit religiöser Legitimation war – ein Konzept, das sich auch bei modernen Extremisten findet.


Der britische Feldzug gegen die Thuggees


Die systematische Bekämpfung der Thuggees begann unter dem britischen General William Henry Sleeman in den 1830er Jahren. Er gründete die "Thuggee and Dacoity Department", eine Vorform moderner Geheimdienste.

Sleeman setzte auf:


  • Informanten aus den eigenen Reihen


  • Verhöre, Geständnisse und öffentliche Prozesse


  • Kartierung von Mordplätzen


  • Zerschlagung lokaler Netzwerke


Bis 1840 hatte Sleeman über 3.000 Thugs verhaften und mehrere Hundert hinrichten lassen. Der Kult verlor seine Struktur und schwand. Der letzte dokumentierte Thug-Mord datiert auf das Jahr 1852.


Mythos, Kolonialismus und moderne Deutungen


Die Geschichte der Thuggees ist eng mit der britischen Kolonialpropaganda verwoben. Die Darstellung eines finsteren Mordkults diente nicht nur der Rechtfertigung der kolonialen Ordnung, sondern auch der moralischen Überhöhung britischer "Zivilisierungsmissionen".


Einige postkoloniale Historiker wie Mike Dash (Thug: The True Story of India's Murderous Cult) weisen darauf hin, dass viele Zahlen überhöht und manche Erzählungen dramatisiert wurden. Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass Tausende von Morden mit rituellem Charakter über Jahrhunderte hinweg dokumentiert sind – ein Beleg für die tiefe Verflechtung von Spiritualität und Gewalt.


Thuggee in Popkultur und Bewusstsein


Die düstere Faszination des Kults hat ihre Spuren in der modernen Kultur hinterlassen:


  • In Indiana Jones and the Temple of Doom (1984) wird ein blutiger Thuggee-Kult dargestellt – allerdings weitgehend fiktiv und überzeichnet.


  • In Computerspielen, Serien und Romanen erscheint der Thugge als Archetyp des "getarnten Killers".


  • Der Begriff "Thug", heute international gebräuchlich für brutale Kriminelle, hat seinen Ursprung im Thuggee-Kult – eine linguistische Spur kolonialer Deutung.


Zwischen Schatten und Spiegel


Der Thuggee-Kult ist mehr als ein dunkles Kapitel indischer Geschichte – er ist eine Mahnung an die Macht der Ideologie, die aus gewöhnlichen Menschen Werkzeuge der Gewalt machen kann. Seine Mitglieder waren keine Dämonen – sie waren Väter, Bauern, Reisende, Brüder.


Vielleicht liegt gerade darin das Grauen: dass das Böse nicht immer schreit oder wütet. Manchmal flüstert es. Manchmal betet es. Und manchmal lächelt es – bevor es zuschlägt.


Quellen und Literatur

  • Kim Wagner: Thuggee: Banditry and the British in Early Nineteenth-Century India, Oxford University Press, 2007.

  • Mike Dash: Thug: The True Story of India’s Murderous Cult, Granta Books, 2005.

  • William Sleeman: Rambles and Recollections of an Indian Official, 1844.

  • BBC History – "Who were the Thuggees?"

  • Encyclopaedia Britannica – Eintrag "Thuggee"

  • Philip Meadows Taylor: Confessions of a Thug, 1839 (zeitgenössischer Roman mit dokumentarischem Hintergrund)

  • S. Mukherjee: Crimes and Criminals of British India, New Delhi Press, 2009.

 
 
 

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