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Tommy McHugh: Als das Ich zerbrach und die Kunst erwachte

  • Autorenbild: Marie Laveau
    Marie Laveau
  • 21. Feb.
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. Mai

Es gibt Geschichten, die auf den ersten Blick wie Fiktion klingen. Geschichten, die uns zwingen, unsere Vorstellungen vom Selbst, vom Gehirn und vom menschlichen Potenzial neu zu überdenken. Eine dieser Geschichten gehört Tommy McHugh – einem britischen Bauarbeiter, Ex-Häftling und Gelegenheitschaoten, der nach einem Schlaganfall als leidenschaftlicher Künstler, Dichter und spirituell Suchender neu geboren wurde.


Was macht uns aus? Können Fähigkeiten plötzlich erwachen, von denen wir nichts wussten? Und was passiert, wenn ein medizinisches Trauma nicht nur zerstört, sondern auch erschafft? Die Geschichte von Tommy McHugh ist eine emotionale, intellektuell faszinierende und zutiefst menschliche Reise in das unbekannte Terrain zwischen Trauma und Transformation.


Der Schlaganfall, der alles veränderte


Im Jahr 2001, im Alter von 51 Jahren, erlitt Tommy McHugh eine Hirnblutung – genauer: zwei Schlaganfälle im Bereich des temporoparietalen Übergangs beider Gehirnhälften. Diese Regionen sind u.a. für Sprachverarbeitung, Raumwahrnehmung und Kreativität zuständig.

Die Ursache war ein geplatztes Aneurysma. Während einer Operation zur Druckentlastung fiel McHugh ins Koma. Als er erwachte, war nichts mehr wie zuvor.


Was folgte, war keine Phase der Rekonvaleszenz, sondern der plötzliche Ausbruch einer unaufhaltsamen kreativen Energie. McHugh begann, obsessiv Gedichte zu schreiben – bis zu 20 pro Tag. Er zeichnete unaufhörlich, bastelte Skulpturen, schrieb Theaterstücke. Innerhalb weniger Monate hatte sich sein ganzes Wesen verändert.


Vom Bauarbeiter zum Künstler


Die Veränderung war nicht subtil. McHugh beschrieb, wie er plötzlich das Gefühl hatte, von einer höheren Energie durchströmt zu werden. Seine Gedanken kreisten unentwegt um Metaphern, Rhythmen, Farben, Perspektiven. Er sprach in Reimen, empfand eine fast kindliche Freude am Ausdruck. Und mehr noch: Er hatte das tiefe Bedürfnis, seine Erfahrungen zu kommunizieren, sie mit der Welt zu teilen.


Er richtete in seinem Haus ein kleines Atelier ein. Seine Bilder waren roh, intensiv, farbenfroh – oft selbstporträtartig, mit surrealen Elementen. In einem davon sieht man sein eigenes Gehirn, aufgespalten, durchzogen von Farben und Symbolen.

Was seine Ärzte zunächst für eine vorübergehende psychische Nebenwirkung hielten, blieb dauerhaft: McHugh hatte sich fundamental verändert – emotional, kognitiv, spirituell.


Das savantähnliche Syndrom: Wenn das Gehirn neu verdrahtet wird


Wissenschaftlich gesehen war der Fall spektakulär. McHugh wurde bald von führenden Neurowissenschaftlern kontaktiert, darunter Dr. Alice Flaherty vom Massachusetts General Hospital und Prof. Vilayanur S. Ramachandran aus Kalifornien, ein weltbekannter Neurologe und Autor.


Was McHugh erlebte, ist ein seltenes Phänomen: das sogenannte "Acquired Savant Syndrome" – das erworbene Inselbegabungssyndrom. Menschen, die nach einer Hirnverletzung plötzlich außergewöhnliche Fähigkeiten entwickeln, insbesondere in den Bereichen Musik, Kunst, Mathematik oder Sprache.


Ramachandran vermutete, dass die Hirnblutung McHughs „hemmende“ Netzwerke ausgeschaltet hatte, die normalerweise kreative Impulse blockieren oder filtern. In einem gesunden Gehirn gibt es zahllose Mechanismen, die unbewusste Ideen zensieren, ordnen oder verwerfen. Wenn diese Kontrolle durch eine Verletzung wegfällt, können kreative oder synästhetische Assoziationen durchbrechen.


Der Schlüssel liegt oft in einer verstärkten Kommunikation zwischen verschiedenen Gehirnarealen – ein Prozess, der bei Autisten oder Savants häufig beobachtet wird, bei McHugh jedoch neu erworben wurde.


Kunst als Therapie, Sprache als Selbsterkenntnis


Für McHugh war die Kunst nicht nur Ausdruck, sondern Heilung. Nach einer Kindheit voller unterdrückter Emotionen und einem Erwachsenenleben voller Gewalt war das Malen, Schreiben und Modellieren sein Ventil. Er verarbeitete nicht nur das Trauma des Schlaganfalls, sondern auch seine Vergangenheit.


Er sprach oft davon, dass „etwas“ in seinem Kopf aufgewacht sei – nicht nur kognitiv, sondern auch emotional. Plötzlich konnte er lieben. Vergeben. Reflektieren. Er besuchte Schulen, Gefängnisse und Krankenhäuser, um über seine Transformation zu sprechen.


In einem Interview sagte er einmal:

„Ich war mein Leben lang ein Gefangener meines eigenen Kopfes. Und jetzt, wo ein Teil davon zerstört ist, bin ich zum ersten Mal frei.“

Wer sind wir ohne unser Gehirn – oder mit einem anderen?


Tommy McHughs Geschichte ist für mich mehr als nur eine faszinierende Anekdote. Sie ist eine existenzielle Herausforderung. Wenn ein Mensch sich derart radikal ändern kann – wer ist er dann? War der kreative Tommy der „wahre“ Tommy, der nur endlich befreit wurde? Oder war es eine andere Person, erschaffen durch Zufall, durch Trauma?


Diese Fragen gehen weit über die Medizin hinaus. Sie berühren Philosophie, Identität, Bewusstsein. Wie stabil ist unsere Persönlichkeit? Wie sehr sind wir das Produkt neuronaler Verschaltungen, neurochemischer Signale, zufälliger Aktivitätsmuster?


Ich stelle mir vor, wie es für McHugh gewesen sein muss: Einerseits der Rausch der neuen Welt, die sich ihm eröffnete – andererseits die Verwirrung, die Einsamkeit, vielleicht auch die Angst. Denn seine Transformation war nicht nur ein Geschenk. Sie war auch eine Entfremdung – von Freunden, von seiner Vergangenheit, vielleicht sogar von sich selbst.


Ein Leben im Licht, ein Ende in Würde


Tommy McHugh lebte noch fast zehn Jahre nach seinem Schlaganfall. Er starb 2012 an Lungenkrebs – ein Abschied, den er mit Würde und einer tiefen Spiritualität annahm. Bis zuletzt malte er. Seine Werke hängen heute in Schulen, Kliniken und bei Sammlern, sein Leben wurde in Dokumentationen und Büchern festgehalten.


Er selbst betrachtete sein zweites Leben als Geschenk. Nicht, weil es einfach war, sondern weil es ihn zu dem Menschen gemacht hatte, der er sein wollte: neugierig, fühlend, ausdrucksstark.


Das Gehirn als Quelle der Seele


Tommy McHugh hat gezeigt, dass Kreativität nicht nur ein Talent ist, sondern ein Zustand des Seins. Und dass in jedem von uns Potenziale schlummern, die – vielleicht durch Schmerz, vielleicht durch Zufall – ans Licht kommen können. Seine Geschichte ist ein stilles Manifest für die Plastizität des Gehirns – und die Tiefe des menschlichen Geistes.


Er lehrt uns: Wir sind nicht festgelegt. Wir können uns verändern. Und manchmal, wenn das Leben uns bricht, setzt es uns neu zusammen – bunter, tiefer, reicher als zuvor.


Eule

Quellen und weiterführende Literatur:

  • Ramachandran, V.S. (2011): The Tell-Tale Brain

  • Treffert, Darold A. (2010): Islands of Genius

  • BBC Documentary: Tommy McHugh: A Stroke of Genius

  • Artikel im The Guardian (2005): „The Artist Within“

  • Interviews mit Dr. Alice Flaherty (Harvard Medical School)

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