Phineas Gage: Der Unfall, der die Persönlichkeit spaltete
- Marie Laveau
- 13. Feb.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Mai
Am 13. September 1848 veränderte ein tragisches Ereignis nicht nur das Leben eines jungen Mannes, sondern auch die Geschichte der Neurowissenschaften für immer. Phineas Gage, ein 25-jähriger Bauleiter bei einer Eisenbahnlinie in Vermont, erlitt einen Arbeitsunfall, der in seiner Art einzigartig war – und der weitreichende Erkenntnisse über die Natur der Persönlichkeit, des Bewusstseins und des Gehirns selbst zutage fördern sollte.
Der Unfall – Eine Eisenstange durch den Schädel
Gage arbeitete als Sprengmeister beim Ausbau einer Eisenbahnlinie. Dabei war es seine Aufgabe, Sprenglöcher mit Schießpulver zu füllen, eine Zündschnur hineinzulegen und die Mischung mit Sand zu verdichten. An jenem verhängnisvollen Tag wurde dieser letzte Schritt – das Verdichten – überstürzt durchgeführt. Das Pulver explodierte frühzeitig.
Die Folge: Eine rund 1,10 Meter lange, 3,2 cm dicke Eisenstange durchschlug Gages Schädel von unten nach oben, trat unterhalb des linken Jochbeins ein und verließ den Schädel oberhalb des Scheitels. Sie landete mehrere Meter entfernt, von Blut bedeckt.
Unglaublich, aber wahr: Phineas Gage verlor weder das Bewusstsein noch starb er an Ort und Stelle. Augenzeugen berichteten, er habe sofort wieder gesprochen und sei sogar einige Minuten später selbstständig aus dem Unfallbereich gegangen. Noch am selben Tag wurde er von dem örtlichen Arzt Dr. John Martyn Harlow behandelt, der akribisch dokumentierte, was später als eines der bedeutendsten Fallbeispiele in der Geschichte der Neurologie gelten sollte.
Die medizinische Sensation
Die Wunde entzündete sich zwar in den folgenden Wochen, und Gage schwebte zeitweise in Lebensgefahr, doch nach wenigen Monaten hatte er sich körperlich weitgehend erholt. Er konnte wieder gehen, essen, sprechen – alles schien auf den ersten Blick in Ordnung.
Aber etwas war anders.
Wie Dr. Harlow später schrieb:
„Gage war kein Gage mehr.“
Die Persönlichkeit in Trümmern
Vor dem Unfall galt Phineas Gage als verantwortungsbewusst, zielstrebig, beliebt bei Kollegen und Vorgesetzten. Er war ein Mann mit klaren Plänen, ein effizienter und geschätzter Mitarbeiter. Nach dem Unfall jedoch zeigte sich ein völlig anderes Bild: Gage wurde impulsiv, unzuverlässig, unhöflich. Er verlor seinen Job, konnte keine feste Beschäftigung mehr ausüben, beleidigte andere, traf schlechte Entscheidungen und zeigte keinerlei langfristige Planung mehr.
Heute nehmen Neurowissenschaftler an, dass das Trauma seine präfrontale Hirnrinde, insbesondere den ventromedialen präfrontalen Kortex, zerstört hatte – ein Bereich, der entscheidend für emotionale Regulation, soziale Interaktion, Impulskontrolle und Zukunftsplanung ist.
Gages Fall war der erste dokumentierte Nachweis dafür, dass Persönlichkeit eng mit der Funktion bestimmter Hirnareale verknüpft ist. Bis dahin hatte man das Gehirn vor allem als Schaltzentrale für motorische Funktionen und Sprache verstanden – nun trat auch das Selbst, das Wesen, die „Person“, in den Fokus der Hirnforschung.
Leben nach dem Unfall
Gage lebte nach dem Unfall noch fast zwölf Jahre. Er reiste durch die USA und Südamerika, arbeitete u.a. kurzzeitig als Kutscher in Chile, wo seine motorischen Fähigkeiten und Reaktionen auf hohem Niveau bleiben mussten – ein Hinweis darauf, dass seine kognitive Leistungsfähigkeit nicht vollständig zerstört war.
1859 kehrte er zu seiner Familie zurück, geistig geschwächt und körperlich gezeichnet. 1860 starb er im Alter von nur 36 Jahren, vermutlich an einem epileptischen Anfall, der auf die Hirnverletzung zurückgeführt wurde.
Sein Schädel, mitsamt der Eisenstange, befindet sich heute in der Sammlung des Warren Anatomical Museum der Harvard Medical School in Boston.
Es ist ein Mahnmal, eine Ikone, ein Symbol für den schmalen Grat zwischen dem „Ich“ und dem, was das Gehirn daraus macht.
Die Tragik eines inneren Verlustes
Was mich an der Geschichte von Phineas Gage so tief bewegt, ist nicht nur die medizinische Kuriosität oder die wissenschaftliche Bedeutung seines Falls. Es ist das menschliche Drama dahinter – ein Mann, der körperlich überlebte, aber emotional und psychisch „starb“.
Man stelle sich vor: Alles, was Gage ausmachte – seine Freundlichkeit, seine Disziplin, seine Ambitionen – wurde durch einen einzigen Moment ausgelöscht. Nicht, weil er seine Erinnerungen verloren hatte. Nicht, weil er gelähmt war. Sondern weil seine Persönlichkeit zerbrach.
Das muss für ihn unbegreiflich gewesen sein. In sich selbst gefangen, mit dem Wissen, dass er „anders“ ist, ohne dass er es kontrollieren oder erklären konnte. Und für seine Familie, seine Freunde? Sie verloren einen Sohn, einen Bruder, einen Kollegen – und bekamen einen Fremden zurück, der aussah wie Phineas Gage, aber nicht mehr wie er handelte oder fühlte.
Ich frage mich oft: Hat er es gespürt? Konnte er sich erinnern, wie er früher war? Gab es Momente der Klarheit, des Schmerzes über den eigenen Zustand? Oder lebte er einfach nur weiter, innerlich entfremdet, getrieben von Impulsen, ohne sich selbst zu erkennen?
Auch wenn viele Berichte seinen Zustand als „soziale Verwahrlosung“ beschreiben, muss es doch auch Augenblicke gegeben haben, in denen seine alte Persönlichkeit durchschimmerte. Etwas Menschliches. Ein Lächeln, das zu früh kam. Eine Traurigkeit, die niemand verstand.
Wissenschaftliches Vermächtnis – Ein Fenster ins Selbst
Phineas Gage hat die medizinische Welt revolutioniert – nicht, weil man ihm helfen konnte, sondern weil man durch ihn besser zu verstehen begann, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Seine Geschichte war ein Vorläufer der modernen Neuropsychologie, die sich mit der Beziehung zwischen Hirnstruktur und Verhalten beschäftigt.
Seine Verletzung legte die Grundlage für bahnbrechende Erkenntnisse:
Lokalisationstheorie: Die Idee, dass bestimmte Hirnareale spezifische Funktionen erfüllen.
Neuroethik: Wie definieren wir Verantwortung, wenn Hirnschäden unser Verhalten verändern?
Rehabilitation: Die Erkenntnis, dass selbst bei schwersten Gehirnverletzungen teilweise Anpassung und Kompensation möglich sind.
Heute weiß man durch bildgebende Verfahren wie fMRI und PET-Scans, wie Emotion, Vernunft und Persönlichkeit zusammenspielen. Patienten mit Schäden im präfrontalen Kortex zeigen ähnliche Symptome wie Gage: Impulsivität, emotionale Abstumpfung, Desinhibition.
Gage war also kein Einzelfall – aber er war der erste, der das Unfassbare sichtbar machte.
Phineas Gage – Der Mensch hinter dem Mythos
Oft wird Phineas Gage als wissenschaftliche Anekdote erzählt. Als Beispiel im Psychologieunterricht. Als Kapitel in einem Neurologiebuch. Aber selten spricht man über den Mensch hinter diesem dramatischen Schicksal.
Er war ein junger Mann mit Zukunft. Mit Zielen, Beziehungen, Hoffnungen. Und durch einen Sekundenbruchteil – eine Explosion, ein Stück Eisen – wurde alles anders. Es ist eine eindringliche Erinnerung daran, wie zerbrechlich unser Selbst ist. Wie tief unser Gehirn mit unserem Wesen verwoben ist. Und wie eng das biologische und das persönliche miteinander verbunden sind.
Ich empfinde Mitgefühl für Gage, aber auch Bewunderung. Dafür, dass er – trotz allem – weiterlebte. Dass sein unfreiwilliges Opfer Millionen half, das Gehirn besser zu verstehen. Und dass sein Leben, so tragisch es war, die Grundlage für eine der faszinierendsten Fragen der Menschheit lieferte:
Was macht uns zu dem, was wir sind?
Quellen und weiterführende Literatur:
Damasio, Antonio R. (1994): Descartes’ Error: Emotion, Reason and the Human Brain
Harlow, J.M. (1868): Recovery from the Passage of an Iron Bar Through the Head
Macmillan, Malcolm (2000): An Odd Kind of Fame: Stories of Phineas Gage
National Institutes of Health (NIH) – Historical Archives
Warren Anatomical Museum, Harvard Medical School
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