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Monsieur Mangetout: Der Mann, der das Unmögliche verdauen konnte

  • Autorenbild: Marie Laveau
    Marie Laveau
  • vor 17 Stunden
  • 3 Min. Lesezeit

Es gibt Menschen, die die Grenzen des Möglichen verschieben, nicht durch technische Innovation oder philosophische Tiefe, sondern durch die bloße Art, wie sie existieren. Michel Lotito war so jemand. In einer Welt, die zunehmend digital, abstrakt und entkörpert erscheint, fasziniert mich besonders, wie ein Mann mit seinem Körper Dinge vollbrachte, die jeder physiologischen Vernunft widersprechen. Ein Mensch, der Metall aß, Glas schluckte und Flugzeuge "verdauen" konnte – das klingt nach urbanem Mythos. Doch hinter dem Spitznamen "Monsieur Mangetout" verbirgt sich eine belegte, fast medizinische Ausnahmeerscheinung.


Mann mit Messer und Gabel sitzt an einem Tisch
By Guinness World Records - http://www.guinnessworldrecords.com/world-records/67621-strangest-diet, Fair use, https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=59957884

Die Geburt einer Legende


Michel Lotito wurde 1950 im französischen Grenoble geboren. Schon im Kindesalter zeigte sich, dass etwas mit ihm "anders" war. Im Alter von neun Jahren begann er, seltsame Gegenstände zu essen – zunächst zerbrochene Gläser, dann Metallteile. Was für andere eine lebensbedrohliche Situation bedeutet hätte, blieb für Lotito folgenlos. Bald wurde aus einer merkwürdigen Neigung eine Bühnensensation.


Ab 1966 trat er unter dem Namen "Monsieur Mangetout" ("Herr Iss-alles") auf Jahrmärkten, in Fernsehsendungen und Varietétheatern auf. Seine Darbietungen waren spektakulär: Er aß Fahrräder, Fernseher, Einkaufswagen, Betten, und als Krönung seiner Karriere ein komplettes Leichtflugzeug des Typs Cessna 150 – in Stücken zersägt, versteht sich.


Der menschliche Magen als Industrieanlage


Wissenschaftlich betrachtet war Michel Lotito ein medizinisches Wunder. Er litt an einer seltenen Störung namens Pica, einem pathologischen Essverhalten, bei dem Menschen Substanzen zu sich nehmen, die keinen Nährwert besitzen. Doch Pica allein erklärt nicht, wie er täglich bis zu ein Kilogramm Metall ohne innere Verletzungen zu sich nehmen konnte.


Lotitos Magen- und Darmwände waren etwa doppelt so dick wie die eines durchschnittlichen Menschen. Diese besondere Physiologie schützte ihn vor inneren Verletzungen durch scharfkantige Objekte. Er trank große Mengen Mineralöl und Wasser, um das Herunterschlucken und Verdauen zu erleichtern.

In einer Studie, die in den 1980er Jahren an der Université de Paris durchgeführt wurde, analysierten Ärzte seine Verdauungsprozesse. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass sein Körper in der Lage war, kleine Metallstücke zu "umschließen" und sie relativ gefahrlos auszuscheiden. Tatsächlich blieb Lotito von inneren Verletzungen weitgehend verschont – ein Phänomen, das bis heute kaum verstanden ist.


Die berühmtesten Mahlzeiten


Zwischen 1959 und 1997 aß Michel Lotito unter anderem:


  • 18 Fahrräder

  • 15 Einkaufswagen

  • 7 Fernsehgeräte

  • 6 Kronleuchter

  • 2 Betten

  • 1 Paar Ski

  • 1 Computer

  • und natürlich: 1 Flugzeug (Cessna 150)


Für das Flugzeug benötigte er etwa zwei Jahre. Die Metallteile wurden in kleine Stücke geschnitten, die er stückweise mit Mineralöl hinunterspülte. Insgesamt konsumierte er laut eigenen Angaben zwischen 1966 und 2007 rund neun Tonnen Metall.


Der Mensch hinter dem Phänomen


Trotz seiner Berühmtheit blieb Lotito ein bescheidener Mensch. Er lebte zurückgezogen in Grenoble, heiratete nie und blieb kinderlos. Freunde beschrieben ihn als freundlich, diszipliniert und fast mönchisch in seiner Lebensweise. Seine Mahlzeiten bestanden zu 90% aus "nicht-normativen" Objekten. Ironischerweise vertrug er konventionelle Lebensmittel wie Eier oder Bananen nicht gut – sie verursachten ihm Magenbeschwerden.


Sein Körper wurde zur Kunst, sein Magen zur Bühne. In einer Welt, die zunehmend auf digitale Sensationen setzt, war Lotito ein analoges Wunder – ein Mensch, der das Absurde greifbar machte.


Tod eines Unsterblichen


Michel Lotito starb am 25. Juni 2007 im Alter von 57 Jahren an natürlichen Ursachen. Kein tragischer Unfall, keine innere Blutung, kein metallisches Missgeschick. Sein Tod war beinahe enttäuschend banal im Vergleich zu seinem spektakulären Leben.


Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Saint-Roch in Grenoble, wo gelegentlich Metallobjekte als skurrile Grabbeigaben niedergelegt werden. In Gedenkforen, Dokumentationen und Sammlungen kurioser Weltrekorde lebt sein Name weiter.


Wissenschaftlicher Kontext: Grenzen der menschlichen Physiologie


Michel Lotito ist ein Paradebeispiel für die extreme Plastizität des menschlichen Körpers. Seine Geschichte wirft grundlegende Fragen auf: Wie definiert sich "Normalität" im biologischen Kontext? Wie weit kann sich der menschliche Organismus anpassen? Und was passiert, wenn Psyche und Körper in solch symbiotischer Weise zusammenarbeiten?


In der medizinischen Literatur gilt Lotito als Sonderfall, der trotz umfangreicher Studien letztlich als unerklärlich eingestuft bleibt. Er widerspricht der Lehrbuchphysiologie und verkörpert eine biologische Anomalie, die so spektakulär wie unnachahmlich ist.


Ein Mensch zwischen Biologie und Bühnenmythos


Michel Lotito war kein Superheld, kein Science-Fiction-Produkt und kein Trickbetrüger. Er war ein Mann mit einer einzigartigen physiologischen Konstitution, der aus seinem Defizit ein Spektakel, aus seiner Andersartigkeit eine Kunstform machte. Seine Geschichte ist nicht nur eine Kuriosität, sondern ein Plädoyer für die Vielfalt menschlicher Möglichkeiten.


In einer Welt, die sich zunehmend um das "Normale" dreht, bleibt Lotito ein Mahnmal des Außergewöhnlichen.


Maus

Quellen und Literatur

  1. Guinness World Records (2022). Michel Lotito: Most unusual diet. www.guinnessworldrecords.com

  2. Bernard, M. (1989). L'homme qui mangeait tout. Le Figaro, Archiv.

  3. Smith, J. (2008). Extreme Physiology: Human Limits. Oxford University Press.

  4. National Center for Biotechnology Information (NCBI). (2004). Case Studies on Pica and Gastrointestinal Adaptation.

  5. Journal of Gastroenterology (1992). Unusual Adaptation in Digestive Tract: The Case of M. Lotito.


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