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Die Legenden von Fengdu: Die Geheimnisse der Geisterstadt

  • Autorenbild: Marie Laveau
    Marie Laveau
  • 5. Juni 2024
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. Mai

Nicht das Ende selbst macht uns Angst, sondern die Vorstellung, dass das Bewusstsein weiterlebt, während der Körper vergeht. In nahezu jeder Kultur der Welt gibt es Bilder vom Jenseits: Paradiese, Höllen, Schattenreiche. Doch nur wenige Orte verkörpern diese Vorstellung so greifbar und konkret wie Fengdu, die Geisterstadt am Yangtze.


Hier verschwimmen Mythos, Religion und Architektur zu einem einzigen Bild: Das Leben nach dem Tod ist nicht vage, sondern eine exakt beschriebene Bürokratie voller Prüfungen, Richter und Brücken, auf denen die Seelen balancieren müssen. Fengdu ist kein bloßes Denkmal, sondern eine topografische Allegorie auf das chinesische Jenseits.


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Die Geschichte von Fengdu – Ursprung einer Geisterstadt


Fengdu liegt in der heutigen chinesischen Provinz Chongqing, am Nordufer des Yangtze-Flusses. Der Ursprung der Stadt reicht mehr als 2.000 Jahre zurück in die Zeit der Han-Dynastie. Der Legende nach zogen sich zwei Hofbeamte, Yin Changsheng und Wang Fangping, in die Berge zurück, um Daoisten zu werden und unsterblich zu leben. Ihre Namen zusammengesetzt ergeben "Yinwang" – ein Begriff, der später zum Synonym für den König der Unterwelt wurde.


Mit der Zeit entwickelte sich Fengdu zu einem religiösen Zentrum, das sich der Verehrung von Jenseitsgöttern widmete. Tempel, Hallen und Tore wurden errichtet, um die Reise der Seelen zu symbolisieren. Der Ort wurde zunehmend mit Geistergeschichten und der buddhistisch-taoistischen Vorstellung der Hölle verknüpft. Im Laufe der Jahrhunderte entstand so eine Stadt, die nicht für die Lebenden gebaut wurde – sondern für die Toten.


Architektur als spiritueller Wegweiser


Fengdu ist keine klassische Stadt. Ihre Bauwerke folgen keiner praktischen Logik, sondern einer spirituellen Choreografie:


  1. Geistertor (Ming Shan Da Men) – Das Eingangstor zur Unterwelt, verziert mit Fratzen und Symbolen des Todes.


  2. Die Brücke der Verdammnis (Nai He Qiao) – Ein schmaler Pfad über Wasser, den nur tugendhafte Seelen überqueren können. Sünder stürzen symbolisch hinab.


  3. Halle des Königs Yama – Das Gericht des Totengottes. Hier werden die Seelen gewogen und befragt. Statueskulpturen zeigen das Leiden der Verdammten.


  4. Der 18. Kreis der Hölle – Eine makabre Darstellung der Bestrafung für verschiedene Sünden: Zungen herausreißen für Lügner, das Kochen im Öl für Ehebrecher.


Jede Station in Fengdu spiegelt ein moralisches Weltbild wider. Der Besuch wird so zur symbolischen Reise in die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen.


Der Drei-Schluchten-Damm und der Aufstieg der Totenstadt


Mit dem Bau des Drei-Schluchten-Staudamms (ab 1994) änderte sich das Gesicht Fengdus dramatisch. Der Anstieg des Wasserspiegels im Yangtze-Fluss versenkte große Teile der historischen Altstadt. Doch der "Geisterberg" (Mingshan) mit seinen Tempeln liegt höher und überstand die Flut.


Heute ist Fengdu ein Touristenmagnet. Viele Besucher kommen in Booten über den Fluss, besteigen den Berg, durchschreiten das Geistertor und erleben eine Reise durch die spirituelle Topographie des chinesischen Jenseits. Der makabre Reiz, gepaart mit religiösem Ernst, macht den Ort einzigartig.


Wissenschaftliche Deutung: Eine Psychologie des Jenseits


Während westliche Jenseitsvorstellungen oft dualistisch (Himmel vs. Hölle) aufgebaut sind, bietet Fengdu einen differenzierten Blick. Psychologen und Religionswissenschaftler sehen in Fengdu einen Spiegel des kollektiven Gewissens.


Prof. Dr. Zhang Lihong von der Peking University spricht in ihrer Studie über "Mythological Spaces in Daoist Culture" (2017) von einem "moralischen Panoptikum". Die Stadt sei ein architektonischer Ausdruck der inneren Ethik – vergleichbar mit Dantes "Göttlicher Komödie", aber als realer Ort fassbar gemacht.

Das Narrativ: Nicht das Jenseits ist vage, sondern exakt geregelt – mit Prüfungen, Richtern und Strafen. Eine Vorstellung, die in einer hochregulierten Gesellschaft wie der traditionellen chinesischen besonders wirksam war.


Der Totenkult in Daoismus und Buddhismus


Fengdu ist ein Schnittpunkt verschiedener religiöser Strömungen. Im Daoismus steht das Jenseits für einen Ort der Umwandlung, nicht der endgültigen Verdammnis. Die Seele durchläuft Prozesse, kann geläutert oder zur Wiedergeburt vorbereitet werden.


Im chinesischen Buddhismus hingegen ist das Konzept der diyu (Hölle) zentral. Diese Unterwelt besteht aus mehreren Ebenen, die je nach Schwere der Sünde durchlaufen werden müssen. Beide Vorstellungen verschmelzen in Fengdu zu einer einzigartigen Synthese.


Zeremonien, wie das Verbrennen von Papiergeld oder das Darbringen von Speisen, finden bis heute statt. Sie zeigen, dass Fengdu nicht nur eine Touristenattraktion ist, sondern auch ein Ort lebendiger Spiritualität bleibt.


Was Besucher berichten


Viele Besucher berichten von einer eigentümlichen Atmosphäre in Fengdu. Nicht unbedingt Furcht, sondern eine stille Ehrfurcht vor dem Tod. Die Skulpturen sind grotesk, aber kunstvoll; die Höllenkreise brutal, aber moralisch aufgeladen.


Einige Touristen berichten von seltsamen Kältegefühlen, plötzlichem Unwohlsein oder flackernden Kameras in bestimmten Hallen. Ob es sich dabei um psychologische Projektionen oder reale Phänomene handelt, bleibt offen – doch die Macht der Vorstellung reicht oft aus, um Gänsehaut zu erzeugen.


Das bleibende Echo


Fengdu konfrontiert uns mit einer unbequemen Wahrheit: dass unsere Handlungen Konsequenzen haben, möglicherweise über den Tod hinaus. Ob man die Geisterstadt als kulturelles Erbe, religiösen Ort oder gespenstisches Spektakel sieht, bleibt jedem selbst überlassen.


Aber wenn ein Ort das Potenzial hat, uns zugleich zu erschrecken, zu belehren und zu faszinieren, dann ist es dieser: Die Stadt der Toten, die für die Lebenden gebaut wurde.


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Quellen und Literatur


  • Zhang, Lihong. Mythological Spaces in Daoist Culture, Peking University Press, 2017.

  • Teiser, Stephen F. The Scripture on the Ten Kings and the Making of Purgatory in Medieval Chinese Buddhism, University of Hawaii Press, 2003.

  • De Groot, J.J.M. The Religious System of China, 1897.

  • "Fengdu Ghost City: A Journey Through the Chinese Underworld", China Culture.org, 2021.

  • Yangtze River Cruises: Offizielle Dokumentation zur Überschwemmung Fengdus durch den Drei-Schluchten-Damm, 2005.

  • Interviews mit Touristen und lokale Broschüren aus Fengdu (2020–2023)


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